Es gibt eine Vielzahl an Methoden, aber nur einen Weg.
Patrick Kelly

Der wahre Sinn und Zweck des Taiji liegt in der tiefen inneren Entwicklung. Nach dem Beruhigen des Oberflächenbewusstseins trainieren wir den Verstand bzw. Geist (englisch "Mind") auf einer tieferen Ebene mit dem Ziel, vorhandene eingeprägte Verhaltensmuster (in den Bewegungen, den Emotionen und dem Denken) durch etwas Verfeinertes zu ersetzen und letztlich in Verbindung mit dem eigenen Höheren Selbst zu treten. Gesundheit oder die Anwendbarkeit in der Selbstverteidigung sind bloß "Nebeneffekte" dieses Trainings.

Eingeprägte Verhaltensmuster Im Laufe unserer Kindheit, unseres Lebens lernen wir verschiedene Verhaltensmuster und Schutzmechanismen ein, um mit der Umwelt und den Einwirkungen der Außenwelt gut zurecht zu kommen. Im Alltag werden wir uns allerdings meist (wenn überhaupt) nur des Ergebnisses dieser Verhaltensmuster bewusst, zB. wenn wir physischen Druck auf uns erwarten, spüren wir evt. dass sich der Körper gegen diesen Druck lehnt, um ein Kräftegleichgewicht herzustellen. Das passiert ganz automatisch durch die Körperintelligenz, ohne dass wir dazu bewusst etwas tun müssten. Ja, im Regelfall können wir es sogar gar nicht verhindern, selbst wenn wir uns das vornehmen.

Diese Verhaltensmuster sind zwar in der Regel für das normale Leben hinreichend, sie sind aber nicht unbedingt die intelligenteste Art zu reagieren. Um beim Beispiel zu bleiben: anstatt dem erwarteten Druck mit Gegendruck zu begegnen, wäre es intelligenter, dem Druck auszuweichen und ihn ins Leere laufen zu lassen und gleichzeitig die eigene Kraft zur Lenkung und Kontrolle einzusetzen.
Alltagsverstand beruhigen Um diese Verhaltensmuster bewusst zu verändern, müssen wir zunächst einmal unsere Aufmerksamkeit vom Ergebnis auf die davor ablaufenden Prozesse richten, ansonsten kommen wir immer zu spät. D.h. wir müssen die gleichen Informationen wahrnehmen und auf der gleichen Ebene reagieren wie unsere unbewusste Körperintelligenz. Dazu ist unser Alltagsverstand bzw. Oberflächenbewusstsein nicht in der Lage.

Im Alltag nehmen wir unsere Umwelt hauptsächlich durch die fünf äußeren Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tastsinn), die mehr mit dem Oberflächenbewusstsein verbunden sind, wahr. Unsere Körperintelligenz erhält ihre Informationen über den Zustand und Dynamik des Körpers hingegen durch fünf Arten von Sensoren, die im Körper verteilt sind und Auskunft geben über: Temperatur, Schmerz, Gelenkstellung, Druck und Muskelzustand (innere Sinne). Für Bewegungen sind davon die letzten drei wesentlich. Für unser Oberflächenbewusstsein sind diese Informationen nicht oder nur sehr grob verfügbar. Wir müssen daher zunächst unseren Alltagsverstand beruhigen und unser Oberflächenbewusstsein "schlafen" schicken, damit ein tieferer Bereich, der stärker mit den inneren Sensoren verbunden ist, mehr aktiv werden kann. Für diesen Bereich gibt es verschiedene Namen: "Deep Mind", "Empty Mind", "Mind within the Mind", chin. "Xin" = "Herzgeist". Dieser Deep Mind ist in jedem Menschen vorhanden und im normalen Leben auch zu einem geringen Teil aktiv; er wird nur meist von unserem Oberflächenbewusstsein "verdeckt".
Deep Mind aktivieren Die Konzentration auf diese feinen inneren Körperempfindungen führt unser Bewusstsein in die Tiefe und aktiviert den Deep Mind; gleichzeitig werden diese Empfindungen immer klarer, je tiefer unser Bewusstseinszustand sinkt. Dann versuchen wir, unsere Wahrnehmung, unsere Intention und unsere Intelligenz auf der jeweiligen Trainingsebene schrittweise zu verfeinern und unter den direkten Einfluss des Deep Mind zu bringen. So wird es bspw. möglich, durch feinste Sensibilität die rohe, harte Muskelkraft eines Angreifers zu überwinden, durch Timing die Schnelligkeit zu besiegen und eine einwirkende Kraft wie eine elastische Feder im eigenen Körper mühelos aufzunehmen und wieder zurückzugeben. Erst wenn die Kontrolle des Deep Mind ausreichend ist, können wir die vorhandenen, alten Strukturen bzw. Verhaltensmuster wirklich ablegen.
Körper - Energie - Geist Die Bewegung (oder allgemeiner der Körper) ist nur die erste Ebene des inneren Trainings. Auch unsere emotionalen Reaktionen laufen meist unbewusst und nach alten, eingelernten Verhaltensmustern ab und plötzlich finden wir uns bspw. voller Wut und Ärger wieder, ohne die Entstehung und Entwicklung wahrgenommen zu haben, geschweige denn sie beeinflussen zu können. Die innere Entwicklung im Taiji findet auch auf dieser emotionalen und schließlich der mentalen/geistigen Ebene nach analogen Prinzipien statt. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf unsere wahren Tiefen Emotionen (jene, die nicht nur eine hormonelle Reaktion des Körpers sind) und arbeiten mit ihnen von einer tiefen Bewusstseinsschicht aus. So versuchen wir, auf allen Ebenen die fest entwickelten Strukturen des Ego nach und nach in den Hintergrund treten zu lassen und durch eine direktere Einflussnahme des Deep Mind - und dessen was dahinter ist - zu ersetzen.
Ein Weg Alle tieferen spirituellen Praktiken folgen dem gleichen Weg, benutzen dabei aber teils unterschiedliche Methoden. Im Taiji erfolgt der Einstieg über die Bewegung, in vielen anderen Praktiken ist es die Atmung, im Yoga die Kontrolle über innere Körperfunktionen, in der Sufi-Tradition die Konzentration auf das Herz etc.
Bemühen / effort Während die Vorbereitung (das Beruhigen des Oberflächenbewusstseins) und die Arbeit mit dem Deep Mind auf der ersten Ebene einer kontinuierlichen Anstrengung über viele Jahre bedarf, geschieht die spätere innere Vertiefung mit der richtigen Einstellung ohne viel Mühe.

Viele Menschen geben sich jedoch mit dem Erreichen eines ruhigen Oberflächenbewusstseins (in einer ruhigen äußeren Umgebung) und dem damit verbundenen friedlichen Geisteszustand alleine zufrieden oder meinen, das spirituelle Ziel überhaupt ohne jede Anstrengung erreichen zu können. Alle großen Lehrer der Geschichte halten dies für einen Irrweg, auf dem keine wirkliche spirituelle Entwicklung möglich ist. Und sobald die ruhige Umgebung wegfällt und diese Menschen wieder mit äußerem Druck konfrontiert sind, reagieren sie - mangels Alternativen - automatisch wieder mit den alten Mustern.